bitte entschuldigen Sie, ich habe heute Nacht ganz vergessen Ihnen die Weihnachtsgeschichte in meinem Newsletter anzuhängen. Das hole ich hiermit nach und nutze die Gelegenheit Ihnen nochmals ein wundervolles, gesegnetes und heiliges Weihnachtsfest zu wünschen.
Mit vorweihnachtlichem Gruß Hans Georg Leiendecker
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Das Weihnachtsgeschenk Nach einer Geschichte von Carmen Laforet
Zum Weihnachtsfest füllte sich das Haus von Doktor Julio Lopez stets mit Gästen. Aus einem benachbarten Dorf kamen sein Vater und seine Schwestern und aus Madrid seine Schwiegermutter Isabel, die für die kleine Stadt eine Sensation war, denn sie sah viel zu jung und elegant aus um schon Großmutter zu sein.
Isabel hielt sich für etwas Besseres und schaute ein wenig verächtlich auf die Familie ihres Schwiegersohnes herab. Um elf Uhr fuhr ein Chauffeur den Wagen vor und trat in das Haus ein, um Isabel ins Krankenhaus zu fahren, da ihre Tochter wegen ihrer Schwangerschaft sich nicht dazu in der Lage fand. Eine Zofe, gab dem Chauffeur ein großes Paket, das er vorne neben seinem Sitz verstaute. Er konnte kaum etwas von ihr sehen, denn sie war in einen Pelzmantel gehüllt, hatte einen kleinen, einfachen Hut auf und schaute zum Fenster hinaus.
Isabel war melancholisch. Seit einiger Zeit fand sie das Leben ziemlich sinnlos, und ihr schwermütiger Zustand wiederholte sich immer häufiger. “Ich muß zu einem Arzt gehen, oder vielleicht zu einem Psychiater?" Isabels Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. Sie seufzte.
„Das sind die Jahre, nichts als die Jahre. Das Leben hat mir alles gegeben, aber wenn ich zurückblicke, finde ich es irgendwie leer. Nichts von dem, was ich bis jetzt getan habe, hat einen wirklichen Sinn gehabt. Nichts hat mich ganz ausgefüllt. Die Liebe geht vorbei. Die Kinder wachsen heran und bringen nichts als Enttäuschungen." Sie zuckte mit den Achseln.
Der Wagen hielt, der Chauffeur wartete. Isabel fuhr bestürzt hoch, als sie das riesige, altertümliche Gebäude sah, vor dem sie angehalten hatten. Sie dachte auch mit einem gewissen Erstaunen daran, daß sie nun zum erstenmal in ihrem Leben in ein Krankenhaus ging. „Das Krankenhaus ist genauso entsetzlich, wie die ganze Stadt", dachte sie.
Schmutzige Wände, seltsame, armselige Gestalten, die die Treppe hinauf- und hinunterstiegen. Plötzlich stand eine kleine Nonne vor Isabel und begrüßte sie. „Die Mutter von Frau Lopez? Wer hätte das gedacht! Sie sehen ja aus, als wären Sie ihre Schwester. Bitte, hier entlang; man muß über den Hof gehen, um in den Frauensaal zu kommen. „Ich habe nicht viel Zeit, Schwester. Wie traurig müssen die Festtage hier im Krankenhaus sein!"
Isabel redete, als spräche sie mit sich selbst. Die Nonne lächelte ihr zu. „Der Herr ist überall. Überall wird Er geboren, und das ist das wichtigste. Finden Sie nicht auch?" „Ja natürlich” stotterte Isabel, nicht sehr überzeugt. Sie hatte überhaupt nicht an den religiösen Sinn des Festes gedacht. Sie hatte nur daran gedacht, daß die Familien diese Festtage zusammen verlebten, was manchmal etwas lästig, aber doch fröhlich und unersetzlich war.
Geführt von der Schwester, ging Isabel durch große, traurige Säle, in denen ein Bett neben dem anderen stand. Eine Welt unverhüllten, offenen Schmerzes lag in dem Lächeln der Kranken, die Besuch hatten, in dem erschöpften Ernst derjenigen, die alleingeblieben waren. Und die grauenvolle Armut ihrer Wäsche. Isabel hatte immer geglaubt, daß der Staat allen Kranken weiße Nachthemden gebe; sie hatte immer geglaubt, daß der „Staat" über mehr Mittel verfüge und dass „Krankenhäuser und dergleichen", in einem guten Zustand wären und dass diese Manie der Wohltätigkeitsbesuche überflüssig sei. Der Geruch von Desinfektionsmitteln war entsetzlich. Isabel wurde schwindelig. Aus den Händen des Chauffeurs hatte sie das große Paket mit Süßigkeiten entgegengenommen.
„Man hat mir auch diese Bücher gegeben, gnädige Frau." „Ach ja." Isabel wandte sich an die Nonne. „Sie sind wohl für eine Kranke aus dem anderen Saal bestimmt. Eine gewisse Manuela. Mein Schwiegersohn hat mir dieses Weihnachtsgeschenk ganz besonders ans Herz gelegt. Es sind die Werke von San Juan de la Cruz."
„Nein, wie herrlich! Wie aufmerksam und verständnisvoll ist der Doktor doch immer mit unserer Manuela! Sie ist ja auch wirklich eine Heilige. Sie ist im Saal der Schwachsinnigen. Dort spricht nie jemand mit ihr. Aber der Doktor sagt, sie sei sehr begabt, und auf seine Veranlassung hin kümmert sich auch unser Kaplan ganz besonders um sie. Außerdem eine junge Dame, die unsere Armen besucht, kommt dann und wann zu ihr und liest ihr vor. Das arme Geschöpf freut sich so sehr darüber. Und, sehen Sie, am meisten gefällt ihr San Juan, so schwer verständlich seine Werke auch sein mögen. Ich muß gestehen, daß ich das nicht lesen kann. Darum hat der Doktor ihr diese Bücher geschickt. Geben Sie sie ihr selber. Sie erinnert sich immer an die, die sie besuchen, und betet für sie."
Isabels Anteilnahme für diese seltsame Kranke war wach geworden. Sie erinnerte sich an einige Schriften von Juan de la Cruz: „Die klingende Einsamkeit", „Die schweigsame Musik".
Lieber Gott, wie konnte man in diesen Wänden Gefallen daran finden? Plötzlich befand sich Isabel in einer anderen Welt, an einem beklemmenden Ort, wo sie mit Hilfe einer Schwester die Süßigkeiten unter die Schwachsinnigen verteilte. Jetzt verstand sie, daß ihre Tochter keine Kraft hatte, es hier auch nur eine Minute auszuhalten. Die geistig Behinderten lachten, weinten, stritten sich um die Bonbons. Fast jede von ihnen hatte ein verunstaltetes Gesicht oder Körper. Keiner von ihnen lag im Bett. „Wer ist Manuela, Schwester?" „Kommen Sie mit mir."
Neben einem Fenster, in einem Sessel, sah man so etwas wie einen Haufen Lumpen, das war Manuela. Ihr Kopf war an einem Stück Holz festgebunden, damit er nicht nach vorn fallen konnte. Sie war vollkommen gelähmt und verunstaltet. Eine entsetzliche Wunde lief von ihrem Mund über das Kinn. Das war der Kanal, in dem jahraus, jahrein der Speichel abfloß, den sie nicht abzuwischen vermochte. Ein so grauenvoller Anblick, daß die Hände Isabels zitterten, als sie ihr die Bücher zeigte.
„Doktor Lopez hat mich hergeschickt", sagte sie schreiend, denn sie dachte, daß diese Kreatur auch taub war. „Strengen Sie sich nicht an, sie hört sehr gut", klärte die Schwester sie auf. „Bleiben Sie ein paar Minuten bei ihr, während ich die Gruppe da beruhige, die sich um die Bonbons zankt." Isabel wagte nicht zu fliehen und saß schließlich auf einem Stuhl neben der armseligen Gestalt. Ihr war, als träume sie einen schweren Traum. „Gehen Sie nur, gnädige Frau, Sie sind nicht daran gewöhnt." Manuela war es, die so sprach. Sehr leise, aber klar und deutlich. Mühevoll und sanft kamen die Worte aus ihrem Munde. Und plötzlich sah Isabel etwas Erstaunliches. Sie sah zwei außerordentlich große, schwarze Augen, rein und leuchtend, die sie mitleidig anblickten.
Isabel hatte noch nie einen mitleidigen Blick auf sich gefühlt. Und ehrlich gesagt, sie hatte stets gedacht, daß sie es nicht ertragen würde, wenn es eines Tages geschehen sollte. Jetzt war es geschehen. Jenes arme, leidende Wesen hatte Mitleid mit ihr, denn es bemerkte den Widerwillen und das Entsetzen auf ihrem Gesicht. Isabel wurde rot. Doch sie faßte sich wieder. „Aber nein, ich bitte Sie. Es macht mir große Freude, ein paar Minuten mit Ihnen zu plaudern. Die Gedichte von San Juan de la Cruz gefallen Ihnen also? Haben Sie sich früher schon mit ähnlichen Dingen beschäftigt ehe Sie hierherkamen?" Die Augen der Kranken hatten einen Ausdruck, als ob sie sich bemühten, Isabel zu verstehen.
„Bevor ich hierherkam. Das ist so lange her. Ich bin schon vierzig Jahre hier. Vorher wohnte ich in einem Dorf. Ich wollte heiraten." „Vierzig Jahre", dachte Isabel. „Vierzig Jahre!" Beinahe hätte sie diese Worte laut hinausgeschrien. Vierzig Jahre im Sterben liegen, ohne zu sterben! Vierzigmal Weihnachten hier. „Haben Sie keine Verwandten mehr, die Sie Weihnachten besuchen können?" Wieder ein Lächeln in den Augen. „Nein, gnädige Frau." „Vierzig Jahre", dachte Isabel, „das ist fast mein ganzes Leben. Dieses Leben, in dem ich studiert habe, auf Bälle gegangen bin, mich verliebte, herrliche Reisen machte, geheiratet habe, zwei starke, schöne Kinder bekam, Witwe wurde, bezaubernde Freundschaften schloß und meine Einsamkeit mit tausend angenehmen Dingen ausgefüllt habe, die Kultur und Geld bieten können. Jedes Jahr mache ich eine Reise nach Paris, manchmal, um Bücher, meistens, um Hüte zu kaufen, obwohl ich am Ende fast immer beides kaufte. Ich habe Enkel."
Es war eine fieberhafte Aufzählung, eine schnelle, ungeordnete Rückschau auf ihr Leben, hier, neben dem Sessel der Gelähmten. Und jetzt fand Isabel, daß es ein wundervolles Leben war, obwohl sie es noch vor kurzem für leer, für sinnlos gehalten hatte. Und doch, obwohl es ein herrliches Leben war, irgendwie sinnlos war es doch. Irgend etwas fehlte noch darin. Aber sie wußte nicht, was es war. „Und während dieser langen Krankheit haben Sie angefangen, Gefallen am Lesen zu finden?"
„Nein, gnädige Frau. Ich kann nicht lesen. Und ich könnte es auch nicht, selbst wenn ich wollte, so wie Sie mich hier sehen." „Aber dann?" „Manchmal liest man mir vor. Seit zwei Jahren kommen einige sehr gütige Menschen und lesen mir vor. Der Doktor hat es gesehen, und darum schickt er mir diese Bücher. Alles, was darin steht, ist so wahr! Während dieser Jahre ist Gott mir so nahe gekommen, daß ich es verstehen kann. Ohne daß es mich Arbeit gekostet hätte, hat Gott mich nach und nach vollkommen leer und einsam werden lassen, damit ich ganz für Ihn da bin. Lange Zeit habe ich es nicht verstanden. Ich litt, ich bat Gott um Heilung. Dann fing ich an, zu begreifen, wie ich dieses Leiden, diese Einsamkeit ertragen konnte, und alles wurde so schön. Gott nimmt mein Leiden an, das ich ihm anbiete. Ich kann für die Sünder, für die Kranken beten, für sie bitten, für alle, die noch nicht verstehen. Es ist so wunderbar zu verstehen, daß Christus geboren wurde, um uns den Weg zu zeigen. Wie wunderbar ist das! Jeden Tag danke ich Gott, daß er mich erwählt hat, daß ich für Ihn dasein darf. Wenn mir diese Bücher vorgelesen werden, möchte ich oft am liebsten weinen, denn es stehen Gedanken darin, die auch ich gehabt habe."
Als die Schwester zurückkam, sah sie Isabel dicht neben der Kranken sitzen und mit gespannter Aufmerksamkeit ihren Worten lauschen; jenen Worten, die so langsam, so heiser und doch so klar aus ihrem Munde kamen. Isabel vergaß den Anblick, den jener leidende Kopf bot, vollkommen und merkte auch nichts mehr von dem ekelhaften Geruch des Schweißes und der Desinfektionsmittel, der sie fast krank gemacht hatte. Sie hörte nur noch, sie lauschte dem, was sie nie und nimmer in diesem Krankenhaus erwartet hatte: Ein Loblied auf das Leben. Nicht auf das schöne, ferne, ersehnte Leben, sondern auf das gelebte Leben mit all seiner Angst, seinem Schmerz und seiner Verlassenheit, Minute für Minute, in vierzig Jahren gelebt. „Es ist so schön!" Manuela erklärte das Wunder, das ihr widerfahren war, ihren Dialog mit Gott in der entsetzlichen Verlassenheit dieses Saales; ihr Leben in Gott, durch das die Sinne der analphabetischen Bäuerin so vergeistigt wurden. Noch vor kurzem hatte Isabel geglaubt, das Leben könne sie nichts mehr lehren; und jetzt war sie dabei zu lernen.
Und nun neigte sie sich zu der Gelähmten, als trinke sie die Worte von ihren Lippen. „Laß es gut sein, meine Tochter, sprich nicht mehr, Manuela", sagte die Nonne. „Sie leidet entsetzlich", erklärte sie Isabel später, „aber sie ist eine kleine Heilige. Es richtet auf, ein wenig in ihrer Nähe zu sein, nicht wahr? Ihr Schwiegersohn setzt sich sehr oft zu ihr. Er sagt, es tut ihm sehr wohl. Er sagt, sie sei eine wahre Heilige und daß die Heiligen immer kleine Wunder an denen vollbringen, die sich ihnen nähern. Doktor Lopez ist ein ganz außerordentlicher Mensch. Sie müssen sehr stolz darauf sein, daß er Ihr Schwiegersohn ist, nicht wahr?"
Isabel war erschüttert. Mit ihren eigenen Gefühlen beschäftigt, bemerkte sie nichts mehr von dem Elend des Krankenhauses. Ihr Schwiegersohn fiel ihr ein, den sie stets für einen recht gewöhnlichen Menschen gehalten hatte und den sie nun so ganz anders sehen konnte. Vielleicht jenen Menschen, der in ihrer Tochter eine so große Liebe erwecken konnte, daß sie ihn geheiratet und sich in diesen kleinen, langweiligen Ort vergraben hatte. Weiße Flocken rieselten herab. Langsam fuhr der Wagen durch die verschneiten Straßen. Es war ein wirklicher Weihnachtstag.
Isabel fand ihre Familie im Wohnzimmer, neben der Weihnachtskrippe. Die Kleinen waren da, Margarita, die Schwägerinnen, der Schwiegervater, alle. „Bist du schon zurück aus dem Krankenhaus, Isabel?" Julio fragte. Er war auf einen Stuhl gestiegen und stellte mit den Gebärden eines ausgelassenen Buben noch ein paar Hirtenfiguren auf die höchsten Felsen. „Ja, lieber Julio.
Es hat mir sehr gefallen." „Das ist doch nicht möglich, Mama!" Margarita half ihr, den Mantel abzulegen und sah ihrer Mutter erstaunt ins Gesicht. „Aber du siehst wirklich so aus. Gehst fort, um ein Weihnachtsgeschenk zu machen und kommst mit einem Gesicht zurück, als hättest du den Stein der Weisen gefunden. Nicht wahr, Julio?" „Ja, so ist's", sagte Julio ernst und sah seine Schwiegermutter an. „Es hat dir also gefallen?" Wie herzlich die Stimme von Julio klang. Isabel war gerührt. „Ja, und ich glaube, ich habe wirklich den Stein der Weisen gefunden! Ich muß jetzt immer daran denken, damit ich ihn nicht wieder verliere. Und bildet euch nur nicht ein, ich scherze", sagte Isabel heiter, während sie auf den Kamin zuging, um ihre Hände über den Flammen zu wärmen.
Weder ihre Tochter noch die anderen hörten ihr aufmerksam zu, wohl aber ihr Schwiegersohn, und sie wußte es; ihr Schwiegersohn lauschte ihren Worten. Ihr Schwiegersohn kam zu ihr. „Ich möchte gern einmal mit dir sprechen, Julio." „Darum sind wir ja an diesen Festtagen zusammen, Mutter, um von allem zu sprechen, um uns zu verstehen." Er machte eine Pause. „Du hast mit Manuela gesprochen, nicht wahr?" Isabel nickte schweigend. So melancholisch sie noch vor ein paar Stunden gewesen war, so unendlich glücklich fühlte sie sich jetzt in diesem behaglichen Raum, unter all diesen Menschen, die es wert waren, geliebt zu werden.
Zum erstenmal liebte sie die Verwandten ihres Schwiegersohnes. In ihrem Innern hatte sich wirklich ein kleines Wunder vollzogen. Sie hätte sich gern an die Worte Manuelas erinnert, um zu wissen, ob sie soviel Kraft hatten, auch ihr eigenes Leben segnen zu können. Aber es waren nicht die Worte, sondern es war der Mensch, der sie gesagt und wie er sie gesagt hatte. Sie wußte nicht, was ihr geschah. Ja, sie würde mit Julio sprechen müssen, und mit Margarita, mit allen. Vielleicht auch wieder mit Manuela. Vielleicht nur ein wenig mit Gott, wie die arme Manuela es so viele Jahre hindurch getan hatte, um ihr Leben lieben zu lernen. „Welch herrlicher Schnee, wie weihnachtlich ist es!" sagte sie mit lauter Stimme. Und alle sahen zum Fenster, hinter dem das weiße Wunder des Schnees schimmerte.
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